Und dann plötzlich am Montag machte sie für kurze Zeit die Augen auf und jammerte. Einen Tag später wurden wir auf die Normalstation verlegt und die wachen Momente wurden mehr. Sie versuchte zu weinen, auch wenn noch nicht viel raus kam. „Ein gutes Zeichen“ sagte die Neurologin.
Auf der Normalstation kam ich mir ein bisschen vor wie bei Club der roten Bänder. – Das ist jetzt wohl mein offizielles Outing als „Fan“ der Serie 😉 – Alle Schwestern waren unglaublich fröhlich und nett. An den Zimmern hingen Schilder mit den Namen der Kindern. Zwei Jungs rannten mit einem Wasserdeckel Fußball spielend über den Gang. Eine Ärztin rief nur „Passt auf, dass ihr euch nicht noch ein Bein brecht!“ Es gab ein großes Spielzimmer, welches auch von Geschwisterkindern genutzt werden konnte. Vormittags war immer eine Erzieherin anwesend, die sich um Kinder und Eltern kümmerte. Es gab Anton* und Phil* die nur Unsinn machten. Meist konnten die Schwestern drüber lachen, bis die beiden in eine Tasse pinkelten….
Für die Eltern gab es Dusche und Badezimmer, den ganzen Tag Kaffee, Tee und Wasser. Nach mehreren Tagen konnte ich also endlich mal wieder richtig duschen und musste mir nicht auf der Besuchertoilette die Haare waschen, ich bekam etwas zu essen und ein Bett! Hier auf dieser Station lagen die „richtig“ kranken Kinder. Kinder mit Krebs, Hirnschäden und anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen. Ich musste mir manchmal klar machen, dass jetzt auch Lotta zum Club der „richtig“ kranken Kinder gehört. Und trotzdem war es irgendwie eine schöne fast familiäre Atmosphäre.
In den folgenden Tagen erhielt Lotta ihre Medikamente über die Sonde. So konnte einer der beiden Zugänge am Kopf gezogen werden. Aufgrund ihrer Herzfrequenzschwankungen wurde ein Langzeit-EKG geschrieben und gleichzeitig ein Langzeit-EEG. Gegen Ende der Woche, nachdem das Entwässerungsmedikament ausgeschlichen war, wurde der Blasenkatheter versuchsweise gezogen! Wieder ein Schlauch weniger!!! Aber je wacher Lotta wurde, desto weinerlicher wurde sie. Hat sie nicht geschlafen, hat sie geweint. Ärzte, Schwestern, wir, alle waren ratlos. Es war klar sie hat Schmerzen, aber nicht wo. Für mich war es echt schwer. Mein Kind lag da und weinte und ich konnte ihr nicht helfen, denn Lotta wollte sich selbst von mir nicht anfassen lassen. Sie war berührungs- und lichtempfindlich. Also blieb mir nichts anderes übrig als daneben zu sitzen und ihr gut zu zu reden. Ich war sehr froh, dass Juli jeden Tag an meiner Seite war. Von ärztlicher Seite bekam sie Schmerzmittel und einen Magenschutz als Dauerverordnung. Die Schwestern brachten Warmpacks, Kümmelzäpfchen und massierten ihr den Bauch. Schlief Lotta vor Erschöpfung ein, ging ich alleine oder mit Juli im benachbarten Café einen Kaffee trinken.
Freitags kam dann die Physiotherapeutin und machte ein paar Übungen mit Lotta. Sie brachte uns auf die Idee, dass es möglicherweise Entzugserscheinungen sein könnten. Wir sollten mal die Ärzte fragen. Lotta hatte Dienstags das letzte Mal ihr Notfallmittel erhalten, um sie aus dem Krampf zu holen. Sobald sie mehr als zehn Minuten krampft, bekam sie es intravenös verabreicht. Ich hatte nie die Möglichkeit die Neurologin danach zu fragen, aber ich konnte gut mit dem Gedanken umgehen. So hatten wir einen Grund für ihre Unruhe UND es würde irgendwann aufhören.
Am Abend bekam Lotta dann Durchfall. Sie hatte sich offenbar einen Magen-Darm-Infekt eingeholt. Also vielleicht doch „nur“ Bauchschmerzen. Wir wurden isoliert. Das bedeutete, ich durfte keine Gemeinschaftsbereiche mehr aufsuchen. Für jede Kleinigkeit musste ich klingeln. Das Badezimmer im Zimmer durfte ich nicht mehr nutzen, da es auch vom Nachbarzimmer zugänglich war. Zum Waschen, Zähneputzen, zur Toilette usw. musste ich mit Kittel, Handschuhen und Mundschutz bekleidet über den Gang bis zum Badezimmer gehen. Genauso mussten Ärzte und Schwestern diese Schutzmaßnahmen treffen, wenn sie zu uns ins Zimmer kamen.
Ich fing also an Listen zu schreiben mit dem was wir brauchten, damit die Schwestern nicht dreimal laufen müssen. So schnell alles andere ging, ließen die Ergebnisse der Stuhlproben auf sich warten.
Wir jedoch hatten jetzt ein Ziel! Sollte Lotta weiterhin so stabil bleiben, würden wir Montag zurück in unser lokales Krankenhaus verlegt. Ein bisschen näher an zuhause, ein bisschen näher an unserem Großen, näher an unserer Familie. Erst Sonntag ließ sich Lotta ab und zu von mir beruhigen und wir konnten wieder eine bisschen kuscheln. Nachdem am Freitag der zweite Zugang am Kopf gezogen wurde, weil die Antibiotika durch waren, musste Sonntags leider der Zentrale Venenkatheter in der Leiste gezogen werden, weil er „nicht mehr so gut aussah“ und man Angst vor einer Infektion hatte. Dieser sollte eigentlich für den Transport bleiben, damit man im Notfall schnell Medikamente verabreichen kann. Somit war klar, Montagmorgen musste ein neuer Zugang gelegt werden, was bei Lotta nicht ganz so einfach ist.
ABER dadurch das kein Zugang mehr lag, half uns eine nette Schwester dabei uns raus zu schmuggeln. Lotta packten wir unter einen Kittel und verließen für eine halbe Stunde das Krankenhaus. Das erste Mal nach elf Tagen.
In der Nacht krampfte Lotta erneut. Aus Montag wurde dann leider auch nichts, denn Lotta brauchte aufgrund ihres Infekts ein Einzelzimmer. Wir wurden auf den Tag danach vertröstet.
*Namen geändert
Lieber Juli und liebe Steffi
Es tut mir unendlich leid, was ihr durchmacht nach so hoffnungsvollen und glücklichen Monaten mit eurer Tochter. Das möchte ich aus der Ferne mitteilen und euch aufmerksam machen auf den unschätzbaren Wert der Krankenhaus-Seelsorge. Es hat mir einmal sehr geholfen. Sie können sich trostspendend in verschiedene Wertvorstellungen und «Spiritualitäten» einfühlen und auch ganz pragmatische und praktische Ratschläge geben. Sie haben die Kraft der Dritten und der Unbeteiligten auch für konkrete Fragestellungen von «dieser» Welt. Auch der nette Pfarrer, der euch getraut hat, könnte vielleicht helfen. Er schien mir so sympathisch. Ich sass mit ihm am Tisch bei eurer Hochzeitsfeier. Wegen meiner Patientenverfügung müssen die Ärzte mich sterben lassen auch wenn es noch weiter ginge. So ist mein letzter Wille. Ein Bekannter von mir «weiss», dass ein Engel an seinem Bett war und ihn beschützte, als er nach einer OP zunächst nicht mehr aufwachte. Ich glaube bzw. male mir gerne aus, dass die Seele unsterblich ist und man sich im Jenseits wiedersieht und viele Seelen uns dort empfangen. Meine Freundin hatte eine Totgeburt im 8. Monat – sie spürt ihre Tochter heute von dort und freut sich, wenn sie sie wiedersehen darf. Für meine Freundin ist ihr eigener Tod dadurch weniger schlimm geworden. Sie sagt, die behüteten acht Monate in ihrem Bauch war ein besonders wertvolles und schönes Leben, was sie ihr geschenkt hat. Sie glaubt, dass ihre Tochter Emily bis dahin und nicht anders leben wollte. Die Liebeserklärung meiner Freundin an das Leben. Möge alle Liebe der Welt mit euch sein und Euch Kraft geben zu erkennen, was richtig und gut ist! Möge alles gut kommen!