Zwei besondere Gespräche
Freitag – Die Zeit vergeht schnell und der Tag des Gesprächs ist gekommen. Um neun Uhr sitzen wir im Büro des Chefarztes. Das Gespräch dauert zwei Stunden. Nicht, weil wir uns nicht einig sind. Er ist sehr einfühlsam und erklärt uns vieles. Ich dachte es wird emotional, aber das ist es gar nicht. Wir entscheiden, dass Lottas Leben nicht künstlich verlängert werden soll, nur weil wir nicht loslassen wollen. Sie soll nicht durch Maschinen am Leben gehalten werden, wenn klar ist, dass Lotta nie wieder Lotta sein wird. Große Operationen, z. B. am Darm, schließen wir ebenfalls aus. Ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass Lotta eine solche Operation derzeit überleben würde. Kleinere Eingriffe, z. B. um eine Drainage zu legen, aufgrund eines Pneumo-Thorax, sind in Ordnung.
Alle Entscheidungen, die wir heute treffen, können wir jederzeit wieder ändern. Wir hoffen natürlich weiterhin, dass sie es schafft. Trotzdem ist es sehr erleichternd darüber gesprochen zu haben. Es geht nicht nur um die aktuelle Situation, sondern auch wie wir zukünftig damit umgehen wollen. Der Chefarzt wird unsere Kinderärztin informieren und wir werden Kontakt aufnehmen zu einem Kinderpalliativ-Team. So sind wir für den Fall der Fälle gut aufgestellt. Im nächsten Schritt müssen wir aber mit dem Großen sprechen.
Derzeit ist Lotti auf dem richtigen Weg. Sie hat eine gute Minus-Bilanz und sieht fast normal aus. Juli schläft heute wieder zuhause mit unserem Großen. Er fragt nach Lotta. Die beiden sitzen am Esstisch und basteln Drachen.
Ich bekomme folgende Nachrichten:
„Der Große weiß es jetzt. Wir haben gebastelt und er hat zu mir gesagt, dass er hoffe dass Lotta wieder aufwacht. Ich habe ihm ganz ruhig und gut erklärt, dass wir das alle hoffen, aber nur Lotta das entscheiden könne und solle. Ich habe ihm erzählt dass Lottas Herz plötzlich nicht mehr geschlagen habe und Lotti sich in dieser Zeit den Himmel angeschaut habe. Hier habe sie auch die Uroma gesehen und sich alles von oben angeschaut. Die Ärzte haben Lotti dann wiedergeholt und jetzt ist sie bei uns. Wir wüssten aber, dass sie es oben spannend und schön fand. Sie habe alles von oben super gesehen. Sie konnte alles essen, was sie wollte. Sie konnte sprechen, brauchte keine Brille und konnte krabbeln. Sie dachte sich: „Ich komme nochmal wieder“. Jetzt atme die Maschine und Lotta müsse selber entscheiden wann sie lieber von oben auf uns schauen wolle.
Der Große: „Papa, sind alle Ärzte aus dem Krankenhaus gekommen?“ „Ja alle sind losgelaufen und haben alles fallen lassen. Der eine hatte einen Kaffee in der Hand und hat ihn auf den Boden fallen lassen. Der andere Arzt hat gerade ein Würstchen mit Senf gegessen und hat so schnell reingebissen, dass der Senf einem anderen Arzt mitten ins Gesicht gespritzt ist.“ Der Große hat gelacht und war beeindruckt. „Wenn Lotti lieber im Himmel wohnen will wird das für uns schwer und man darf traurig sein aber für Lotti ist es dann schöner. Der Große strahlte und sagte: „Ok Papa, machst du mir wieder das Hörspiel an“ Jetzt ist es raus und ich merke, wie entspannt der Große ist. Ich habe ihm gesagt dass er mich immer alles dazu fragen kann und ich ihm das immer erklären kann.“
Der Große hat viele Fragen und das Gespräch dauert mehr als 20 Minuten. Er kann verstehen, dass Lotta es spannend im Himmel findet. Er wünscht sich, dass Lotta seinen sechsten Geburtstag erlebt, aber wenn nicht, dann schaue sie eben von oben zu und esse ein Stück Kuchen im Himmel.
Ich bin so froh, dass Juli mit dem Großen gesprochen hat. Als wir vor über einem Jahr in Zimmer Nummer vier saßen und die Ärzte uns sagten, dass es für Lotta nicht gut aussehe, war mein erster Gedanke „Was ist mit unserem Großen? Wie können wir ihm sagen, dass Lotta nicht mehr da ist?“. Diesmal ist es anders. Er weiß Bescheid.
Es ist Samstag. Juli ist bei Lotta. Der Große und ich besuchen den Tierpark. Ich genieße die Zeit mit ihm, bin aber doch ein bisschen unruhig. Wir reden viel. Er fragt mich was mit Lotta sei, ob sie schon aufgewacht sei. Ich erkläre ihm, dass Lotta Medikamente zum schlafen bekommt, damit es ihr besser gehe und ihre Körperpolizei besser arbeiten könne. Tränen steigen mir in die Augen und ich sage ihm, dass sie derzeit nicht aufwachen könne, aber wir hofften, dass sie irgendwann wieder wach würde , wenn es ihr besser ginge.
Der Große ist ein sehr empathisches Kind und ich merke, dass er überfordert ist. Er möchte nicht, dass andere traurig sind. Als Juli ihm erzählt hat, dass Lotti vielleicht stirbt, war sein erster Gedanke, dass Oma und Opa doch dann sehr traurig sein würden. Ich wechsele das Thema und wir haben einen tollen Nachmittag zusammen. Meine Schwester holt ihn später ab und ich fahre zurück ins Krankenhaus.